http://www.tagesschau.de/kommentar/westerwelledebatte100.html
Guido Westerwelle ist klüger
von Kerstin Lohse, rbb, ARD-Hauptstadtstudio
Ist er wirklich ein Politik-Rowdy, dem der Diplomatenanzug des Außenministers gleich mehrere Nummern zu groß ist? Ein Zyniker, ein Rechtspopulist? Oder ist Guido Westerwelle einfach nur ein Vollprofi, der genau weiß, was notwendig ist, wenn man eine Debatte lostreten will?
Westerwelle hat lange genug als Oppositionspolitiker die Mechanismen des Politbetriebs studieren können, um zu wissen, dass Aufmerksamkeit im nervösen Berlin ein rares Gut ist. Die Medien schauen auf den, der am lautesten schreit, besser noch: der sich im Ton vergreift - und das war dieses Mal Guido.
Geschickter als Sarrazin, Beck oder Mißfelder
Fast wäre sein Anliegen allerdings untergegangen in der Wut von Meldungen über all jene, die sich in Gutmenschenmanier über ihn und seine Wortwahl echauffierten, die sich eiligst von ihm distanzierten. So wie vor einigen Monaten, als Thilo Sarrazin mal grundsätzlich über das Thema Integration sprechen wollte, dann allerdings mit seinen fremdenfeindlichen Äußerungen über "kopftuchtragende Gebärmaschinen ohne Integrationswillen" am Ende nur jene herausforderte, die sich reflexartig in political correctness übten.
Ein ähnliches Schicksal teilt Kurt Beck, der noch als SPD-Vorsitzender laut über die abgehängte Unterschicht nachdachte. "Prekariat" lautete das neue Buh-Wort. Die Auseinandersetzung aber blieb aus. Und auch Junge-Union-Chef Philip Mißfelder gehört zum Club der Lauten, und doch Überhörten. Denn auch er erntete nur Empörung, als er an die Solidargemeinschaft appellierte, älteren Menschen mit Rücksicht auf die Jüngeren keine künstlichen Hüftgelenke mehr zu finanzieren.
Mit einer Generaldebatte wäre die Rechnung aufgegangen
Westerwelle ist klüger. Er nutzte die Angriffe auf seine Person, um eine Generaldebatte einzufordern. Er warf seinen Kritikern vor, ihn nur deshalb zu attackieren, weil sie keine Argumente hätten und stichelte sie auf diese Weise an, auch weiter an dem Thema dranzubleiben.
Sollte es tatsächlich zu der Generaldebatte kommen, so wäre Westerwelles Rechnung aufgegangen. Mit einem Mal könnte er im Mittelpunkt einer längst überfälligen Auseinandersetzung stehen. Opposition und Regierung säßen dann im Reichstag beisammen, um darüber zu diskutieren, was soziale Gerechtigkeit in diesem Land künftig bedeuten soll. Und vielleicht würde der im Parlament geführte Schlagabtausch weitere Kreise ziehen. Vielleicht. Hoffentlich.
Denn in einem sind sich fast alle einig: an Westerwelles Anliegen ist etwas dran.